Das Alte und das Neue im "Rappoltsteiner Parzifal". Komplementarität als kohärenzstiftendes Moment in mittelalterlichen Graldichtungen

Yen-Chun Chen

(Univ. Bern)

Status: Dissertation, geplanter Abschluss: 2012

http://deutsch.cuso.ch/les-theses/detail-theses/item/projects/unknown-cffbd683ad/

Der im Jahr 1336 fertig gestellte "Rappoltsteiner Parzifal" enthält neben Wolframs "Parzival", einigen wenigen Versen aus Chrétiens "Conte du Graal" und Übersetzungen aus dessen altfranzösischen Fortsetzungen noch einige Minnestrophen sowie Zusätze, für die noch keine Quellen ausgemacht werden konnten. Kaum untersucht ist vor allem die Art und Weise, in der die Partien auf der histoire-Ebene miteinander verknüpft worden sind. Die sorgfältige Verzahnung der Textteile, die Dorothee Wittmann-Klemm erstmals aufgelistet hat, deutet auf eine – wie immer auch geartete – ganzheitliche Konzeption hin. Dagegen sprechen allerdings die verschlungenen und heterogenen Handlungsabschnitte, in denen kein durchgängiges Sujet mehr zu erkennen ist. Die neueren Arbeiten zum Epilog von Sonja Emmerling und Peter Strohschneider haben gezeigt, dass Heterogenität und Widersprüchlichkeit selbst dort stets auf eine signifikante Weise präsent sind. Es hat den Anschein, dass in den mittelalterlichen Epen/Romanen Geschlossenheit und Offenheit als Textgestaltungsprinzip gleichzeitig vorhanden sind. Diese manifestieren sich in den Wiederholungen und Variationen, die ihrerseits eine ‚lebensnahe‘ Welt konstruieren, deren Bestandteile wohl am treffendsten als ‚komplementär‘ bezeichnet werden können. Die ‚Komplementarität‘ spiegelt sich auch in Gegenüberstellungen der Figuren und in der zyklisch-linearen Raum-Zeit-Struktur. Die Koexistenz solcher an sich autonomen Systeme wird von Fortsetzern – darunter auch denjenigen der Erzählung Chrétiens – aufgegriffen und individuell ausgesponnen. Die hier dargestellte Vorüberlegung soll unter Berücksichtung aktueller Literaturtheorien überprüft und weiter entwickelt werden. Umfassende Textanalysen, die dem Faktor der ‚multiplen Autorschaft‘ Rechnung tragen, sollen ferner v.a. die narrative Kohärenz im "Rappoltsteiner Parzifal" aufzeigen und somit eine Interpretation, die über die realhistorische Situierung des Textes hinausgeht, ermöglichen.