Ich – Minne – allegorisch. Eine komparatistische Untersuchung mittelhochdeutscher und altfranzösischer allegorischer Minne-Erzählungen in der ersten Person

Julia Rüthemann

(Univ. Mannheim)

Status: Habilitation, geplanter Abschluss: 2020

http://germanistik.uni-mannheim.de/Germanistische%20Medi%C3%A4vistik/Forschung/

Ziel des Projektes ist die komparatistische Beschreibung und Analyse einer Gruppe von volkssprachigen Texten des Mittelalters, die durch folgende Merkmale miteinander verbunden sind: Sie sind Ich-Erzählungen, ihr Thema ist weltliche Minne, sie schwanken zwischen Narrativität und Diskursivität und weisen allegorische Formen auf. Der bekannteste Text dieser Art ist der französische Rosenroman, im Italienischen wäre die ‚Vita nuova‘ Dantes ein Beispiel dafür, im Englischen Gowers ‚Confessio Amantis‘. Deutschsprachige Beispiele sind die ‚Minneburg‘ oder Johanns von Konstanz ‚Minnelehre‘.
Bislang werden solche Texte in der Forschung verschiedenen Gattungen beziehungsweise literarischen Traditionen zugeordnet und dementsprechend entweder als (Traum-)Allegorien, als Minnereden oder auch als (fiktionale) Autobiographien klassifiziert. Vor allem aber werden weder von germanistischer noch von romanistischer Seite aus komparatistische Analysen vorgenommen, so dass beispielsweise in der germanistischen Forschung Texte wie die ‚Minneburg‘ als gattungstypologische Ausnahmeerscheinung oder als literarischer Sonderweg beschrieben werden, obwohl sie in einer europäischen literarischen Tradition zu stehen scheinen – die allerdings erschließt sich allein dem komparatistischen Blick. Er macht – so wollen wir zeigen – eine Textfamilie sichtbar, für die die Mediävistik bislang noch keinen Begriff hat.
Im Rahmen einer exemplarischen Analyse, die zunächst ausgesuchte mittelhochdeutsche und altfranzösische Texte umfasst (Guillaumes de Machaut ‚Le Jugement du Roi de Bohême‘ und der ‚Roman de la Poire‘ auf der einen und Johanns von Konstanz ‚Minnelehre‘ und die anonym überlieferte ‚Minneburg‘ auf der anderen Seite), soll diese Textfamilie als die Einzelsprache überschreitend und mutmaßlich europäische Dimensionen aufweisend sichtbar gemacht und die Interdependenz ihrer Merkmale komparatistisch untersucht werden.
Das Projekt bewegt sich mit seinem Vorgehen und seinen Zielen auf drei Ebenen:
Es verfolgt erstens ein narratologisches Erkenntnisinteresse: Wie sind die Interdependenzen zwischen den Merkmalen Ich-Erzählung, Minnethematik, Allegorie und Schwanken zwischen Diskursivität und Narrativität zu beschreiben? Tendieren beispielsweise eher Ich-Erzählungen dazu, allegorisch zu sein oder tendieren allegorische Texte dazu, in der ersten Person gefasst zu sein? Und wie hängen diese Merkmale mit dem Zusammenspiel von Narrativität und Diskursivität zusammen? Auf dieser Ebene sind Ergebnisse auch in Hinsicht einer Historisierung der Narratologie zu erwarten.
Zweitens ein komparatistisches: Welche Entsprechungen und Unterschiede bestehen, jenseits einer Unterstellung genetischer Beziehungen, zwischen den mittelhochdeutschen und altfranzösischen Texten?
Drittens ein gattungstypologisches: Auf dieser Ebene soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die literarische Textfamilie ausgehend von der narratologischen Analyse terminologisch, literarhistorisch und in Hinsicht auf Pragmatik und Gebrauchszusammenhang fassen lässt. Im Zentrum der Untersuchung stehen also weder einzelne Texte noch eine Gattung, sondern die Textfamilie, die sich – wie wir exemplarisch zeigen wollen – über die einzelnen Sprachgrenzen hinweg realisiert. Das Erkenntnisinteresse gilt nicht den mittelhochdeutschen und altfranzösischen Einzeltexten als solchen, vielmehr fungieren sie als Exemplifikationen der jeweiligen Ausprägung und des Zusammenspiels der genannten Merkmale.