Jakob Nied
(Univ. Regensburg)
Status: Dissertation, geplanter Abschluss: 2016
Im Rahmen des Promotionsvorhabens soll das Phänomen städtischer Ursprungsnarrationen unter-sucht werden. Ausgangspunkt ist hierbei die Erkenntnis, dass vormoderne Städte sich nicht allein als Rechts-, sondern gerade auch als „Erinnerungsgemeinschaften“ (Johanek) verstanden, die Identität und Selbstverständnis – insbesondere in Bezug auf die Legitimität ihrer Verfasstheit, Freiheiten und Privilegien – aus der Vergangenheit bezogen.
Die Grundlage dieses Selbstverständnisses bildet hierbei folgerichtig der (imaginierte) Ursprung der Stadt, beziehungsweise die Erzählung davon. Solche Erzählungen waren aber nicht nur Grundlage, sondern ihrerseits selbst auch Ausfluss der Vorstellungen und Bilder, die ein Gemeinwesen vom eigenen Ursprung nicht nur gleichsam ‚naturgegeben‘ besaß, sondern auch bewusst produzieren wollte. Es wäre also angemessen, hier von der Produktion einer „Eigengeschichte“ (Rehberg) zur Schaffung dauerhafter Bilder der eigenen Stadthistorie beziehungsweise weiter gefasst von einem Phänomen der „intentionalen Geschichte“ (Gehrke) zu sprechen. In diesem Sinne ‚überbrückt‘ die Gründungserzählung auch den Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart und stiftet so Identität durch Kontinuität. Damit kann eine Gründungserzählung natürlich auch eine bedeutende Rolle im Rahmen der Entstehung einer kollektiven Identität durch „invention of tradition“ (Hobsbawn) übernehmen, also als wesentlicher Faktor im Rahmen der Mobilisierung von Geschichtsvorstellungen zum Zweck der Herausbildung und Entwicklung einer Gemeinschaft fungieren. Daher entstanden, gerade im Spätmittelalter, Herkunftserzählungen zunehmend – in Parallelentwicklung zur Zunahme städtischen Selbstbewusstseins und der Genese städtischer Geschichtsschreibung – als städtische Ursprungserzählungen, häufig mit dem Ziel der Legitimation der Ansprüche der Stadtgemeinschaft.
Von diesen Vorüberlegungen ausgehend kann das Ziel dieser literaturwissenschaftlichen Promotion wie folgt umrissen werden:
Aufbauend auf der einschlägigen mediävistischen, aber auch allgemeinen literatur- und kulturwis-senschaftlichen Fachliteratur soll zunächst ein Schema entwickelt werden, mit Hilfe dessen systematisch untersucht werden kann, inwiefern beziehungsweise welche narrativen Strategien in städtischen Ursprungserzählungen zur Konstruktion einer wie auch immer gearteten Vorstellung einer (gemeinsamen) Identität beziehungsweise von Legitimität in Bezug vor allem auch auf die städtische Verfasstheit und Privilegierung beitragen.
In einem zweiten Schritt soll dieses Schema exemplarisch an mehreren städtischen Ursprungserzählungen angewendet werden, um zu zeigen, welche Strategien sich als besonders wirkmächtig erweisen und um zu untersuchen, ob sich in manchen Punkten aufschlussreiche Leerstellen ergeben. Es geht also um eine literaturwissenschaftliche Kategorisierung der Ursprungserzählungen von ihren narrativen Motiven, Mustern und Strukturen her.
Um dies zu erreichen, soll im Einzelnen wie folgt vorgegangen werden:
Zunächst muss also ein Schema entwickelt werden, in welchem die verschiedenen denkbaren Strategien narrativer Konstruktion von Identität und Legitimität systematisch erfasst und für die Analyse beziehungsweise Systematisierung der Erzählungen nutzbar gemacht werden. Rekurriert wird hierbei natürlich vor allem auf die einschlägige (germanistisch-) mediävistische Forschung – beispielsweise die Beiträge Beate Kellners zur Genealogie in der Literatur oder auch die neuen Erkenntnisse der Mythosforschung – aber auch auf grundlegende Konzepte von Schwester- und Nachbardisziplinen. Besonders ist hier das kulturwissenschaftliche Feld der Erforschung des kollektiven Gedächtnisses und dessen prominente Vertreter wie beispielsweise Jan und Aleida Assmann zu nennen. Hier kommt es vor allem darauf an, diese breitgefächerten methodischen Ansätze auszuwerten und in ihrer Bedeutung für die mediävistisch-literaturwissenschaftliche Fragestellung des Promotionsvorhabens zu begutachten, um auf dieser Basis ein eigenes integratives Kategorisierungsschema zu entwickeln.
Des Weiteren müssen die in Frage kommenden relevanten (Primär-) Textfelder gesichtet und Texte ausgewählt werden: Hierfür kommen vornehmlich Texte vom 13./14. bis zur Schwelle des 16. Jahrhunderts in Betracht, wobei das Hauptgewicht wohl im 15. Jahrhundert liegen wird. An ‚Gattungen‘ wird hier an zentraler Stelle die Chronistik stehen – allerdings danach unterschieden, ob die Ursprungserzählung innerhalb der Chroniken narrativ geformt und tradiert wird oder ob sie separiert überliefert ist. Zudem werden auch die Hagiographie (insbesondere im Kontext von Stadtheiligen beziehungsweise Klostergründungserzählungen) sowie andere Texte – beispielsweise aus der Gattung der laus urbium – herangezogen. Eine altgermanistische Arbeit befasst sich dabei selbstverständlich vorwiegend mit volkssprachlichen Texten, wo nötig sollen aber selbstverständlich auch die lateinischen Prä-, Parallel- und Paratexte mit einbezogen werden.
Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass bei der Textauswahl keineswegs ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann und soll. Die Zahl der überlieferten Stadtgründungerzählungen ist dafür zu groß und zudem die aktuelle Editionslage zu schlecht, da die Texte lange – vor allem von der geschichtswissenschaftlichen Forschung – als fiktiv und daher uninteressant abgewertet wurden. Erst in den letzten Jahren wurde erkannt, dass „[…] die Analyse der lange aufgrund ihrer faktischen Unrichtigkeit verworfenen Erzählungen von Ursprung und Herkommen […] zu einem der spannendsten interdisziplinären Arbeitsgebiete geworden [ist und] [g]eschichtswissenschaftliche Erforschung historischer Traditionsbildung, literaturwissenschaftliche Ansätze und die volkskundliche Erzählforschung […] hier mit Gewinn zusammenwirken [können].“ (Graf 2001, S.31). Eine Auswahl muss folglich immer eklektisch sein und nicht zuletzt auch den Zwängen der Praktikabilität gehorchen. Dies soll aber keineswegs festschreiben, dass ausschließlich – zumindest unkritisch – edierte Texte verwendet werden können. Bei der Auswahl soll als Hauptkriterium neben der Vergleichbarkeit der Texte ihre Brauchbarkeit in Bezug auf das zu entwickelnde Kategorisierungsschema fungieren. Ausgegangen wird hierbei vor allem von den – meist längeren und wirkmächtigeren – Ursprungserzählungen aus dem größeren reichsstädtischen Umfeld – beispielsweise Regensburg, Augsburg oder Nürnberg – die aber um weitere interessante Erzählungen – wie zum Beispiel natürlich die bekannte Gründungssage Triers – ergänzt werden sollen, um das Bild abzurunden.
Die so ausgewählten Texte sollen in einem letzten Schritt dann durch das zuvor entwickelte Schema betrachtet und auf ihre narrativen Strategien der Identitäts- und Legitimitätsbildung hin untersucht werden. In diesem Teil soll nicht nur die Brauchbarkeit des Schemas – auch und besonders für weitere Forschungsvorhaben über dieses Promotionsprojekt hinaus – überprüft werden, sondern vor allem auch durch die exemplarische Untersuchung und das Aufzeigen des Vorhandenseins oder Fehlens narrativer Strategien in den Erzählungen, eine Form ‚narrativer Systematik‘ gefunden beziehungsweise hergestellt werden die eine erste literaturwissenschaftliche Kategorisierung städtischer Ursprungserzählungen erlaubt.
Es wird also zentrales Anliegen dieser Dissertation sein, die verschiedenen Texte, die vom Ursprung der Stadt handeln, über ein literaturwissenschaftliches Schema zu erfassen und – mit dem Fokus insbesondere auf die narrativen Strategien, mit welchen diese Texte eine Vorstellung von Identität und Legitimität entwerfen – (vergleichend) zu untersuchen.