Diagrammatisches Erzählen

Christine Putzo

(Université de Lausanne)

Status: Habilitation, geplanter Abschluss: 2018

http://people.unil.ch/christineputzo/projekte/

Erzählen ist eine grundlegende kognitive Fähigkeit des Menschen. Ihr liegt das Vermögen zugrunde, faktuale oder fiktionale Ereignisse in eine Ordnungsstruktur zu überführen, dabei deren Aufnahme und Verarbeitung durch spätere Rezipienten vorauszusehen und die intendierte Erkenntnis im Text anzulegen. Im Erzählvorgang interferieren so zwei komplexe, aufeinander bezogene mentale Prozesse. Sichtbar allerdings werden allenfalls deren Resultate: auf der einen Seite die durch Analyseverfahren potentiell erfassbaren Ordnungsstrukturen eines narrativen Textes; auf der anderen die etwa durch Rezeptionszeugnisse möglicherweise erkennbaren Gegenstücke dieser Ordnung in ihrer vermittelten Form. Schon die jeweils zugrundeliegenden mentalen Prozesse des Ordnens im Erzählen und des Ordnens in der Erfassung von Erzähltem sind dagegen empirisch nicht greifbar, wenn auch durch kognitionstheoretische Modelle immerhin beschreibbar. Das verbindende Moment beider Prozesse aber, das das Entstehen von Narration als formalem Vermittlungsprinzip überhaupt erst bedingt, bleibt Leerstelle im Modell.

Die projektierte Untersuchung möchte an dieser Stelle mit einem Abstraktum operieren: dem Diagramm, verstanden als „Medium des Denkens“ im semiotischen Sinne. Sie überträgt Ansätze der Diagrammatik als einer Wissenschaft von der (sinnlich-visuellen) Veranschaulichung des Abstrakten, von der räumlichen Medialisierung des Mentalen auf die artifizielle Konfiguration von Narration. Gezielt soll dabei auch die räumlich-dimensionale Struktur des Repräsentationsmodells in seiner konkreten Form genutzt werden. Zugrunde liegt die Annahme einer (quasi-)räumlichen Struktur von Narration, die von der zeitlichen Struktur der Sprache als Erzählmedium zu trennen ist und die zugleich von der – in der europäischen Literatur erst seit der jüngeren Neuzeit gültigen – ästhetischen Konvention verdeckt wird, eine zeitliche Struktur erzählter Handlung zu simulieren. Diese Voraussetzungen führen unter unterschiedlichen medialen und historischen Bedingungen zu ganz verschiedenen Erscheinungsformen narrativer Strukturierung und Strukturwahrnehmung. Die projektierte Untersuchung wird dies an einem gestuften Verlaufsprozess in der deutschsprachigen Literatur vom 13. bis ins 16. Jahrhundert nachvollziehen und für die spätmittelalterliche, weltliche und geistliche Erzählliteratur vor allem des 14. Jahrhunderts vertiefen. Entsprechende Austauschbeziehungen zwischen Mentalem, Medialem und Materialem können vor allem am Corpus der „verwilderten“ Romane des Spätmittelalters zu neuen Erkenntnissen über zugrundeliegende narrative Verfahren führen: Hypothese ist, dass volkssprachigem Erzählen im Spätmittelalter eine narrative Diagrammatik zugrundeliegt, die die genuin räumliche Dimension geplanter Narration nicht nur nicht kaschiert, sondern gezielt sinnbildend nutzt und die sich in dieser Eigenschaft sowohl von den diagrammatischen Strukturen neuzeitlichen Erzählens – das seine räumliche Struktur durch die Simulation einer zeitlichen Struktur überdeckt – als auch von denen des höfischen Erzählens um 1200 – das als Produkt einer semi-litteraten Mischkultur die nicht-räumliche Struktur mündlicher Narration nachbildet – unterscheidet.