Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Neuausgabe.

Christine Putzo

(Université de Lausanne)

Status: Sonstiges Projekt, geplanter Abschluss: 2022

http://people.unil.ch/christineputzo/projekte/#eneas

Der um 1184/90 vollendete ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke zählt zu den bedeutendsten literarischen Zeugen einer sich im 12. Jahrhundert neu etablierenden höfischen Literatur im deutschsprachigen Raum. Als Begründer einer wirkmächtigen Gattungstradition – der des höfischen Romans – ist er auch aus kulturhistorischer Perspektive ein Wende- und Angelpunkt der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters.

Wie eine Vielzahl höfischer Romane liegt indes auch der ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke nur in veralteten Ausgaben vor, die gegenwärtigen wissenschaftlichen Anforderungen nicht mehr genügen können und von denen zudem keine die bis heute bekannt gewordene Überlieferung des Textes vollständig auswerten konnte. Die Editionsgeschichte des ‚Eneasromans‘ ist überdies durch eine ältere Wissenschaftskontroverse zusätzlich belastet und langfristig in die Irre geführt worden, deren Gegenstand aus heutiger Perspektive nicht mehr strittig ist: dem sogenannten „Veldekeproblem“. Heinrich von Veldeke stammte aus dem maasländischen Raum (der heute belgischen Provinz Limburg), also dem niederländisch-niederfränkischen Sprachgebiet, dem auch sein natürlicher Dialekt zugehört haben dürfte. Im Gegensatz zu anderen Werken wie etwa seiner niederfränkischen Bearbeitung des Servatiusstoffes hat Heinrich den ‚Eneasroman‘ aber am Thüringer Hof mitteldeutsch – in einer mundartfernen „thüringisch-hessischen Literatursprache“ (Klein), in den Reimen außerdem mit Rücksicht auf das Hochdeutsche – verfaßt: vielleicht, um sein Werk im Kontext einer auf überregionale Verständlichkeit zielenden Hofliteratur aufgehen zu lassen oder auch im Interesse seiner Mäzene.

Entgegen dieser Einschätzung, die heute den Forschungskonsens bildet, nahm die ältere Forschung an, die erhaltenen – ausnahmslos ober- oder mitteldeutschen – Handschriften des Romans seien Zeugen einer nachträglichen Übertragung eines ursprünglich niederfränkisch verfaßten Textes. Von Anfang an konzentrierte sich die editorische Arbeit am ‚Eneasroman‘ daher auf das Ziel, eine angenommene ursprüngliche Sprachgestalt wiederherzustellen, die hochdeutsche Überlieferung also in möglichst authentischer Form in einen kaum belegten maasländisch-limburgischen Dialekt des 12. Jahrhunderts ‚zurück‘ zu übersetzen.

Sowohl die Ausgabe Behaghels als auch die von Frings/Schieb gelten gegenwärtig als nicht zitierbar. Der ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke wird daher entweder nach dem alten Text Ettmüllers zitiert, den auch die handliche Taschenbuchausgabe Kartschokes (1986, 21997) abdruckt, oder nach einem Abdruck der (am Ende unvollständigen) Berliner Handschrift durch Fromm (1992). In textkritischer Hinsicht aber ist die Edition Behaghels der älteren von Ettmüller und auch der jüngeren von Frings/Schieb weit überlegen, so daß Behaghels Apparat nach wie vor unentbehrlich bleibt. Nur einen „Notbehelf“ (1997, 865), keine befriedigende Lösung, bietet Kartschokes apparatloser Abdruck des Ettmüllerschen Textes mit Hinweis auf ausgewählte Behaghelsche Varianten im Kommentar.

Konzept und Ziele der Neuedition:

Die projektierte Neuedition wird einen kritischen Text des ‚Eneasromans‘ mit vollständigem Apparat der gesamten bekannten Überlieferung bieten. Methodische Grundlage ist das Leithandschriftenprinzip. Im Unterschied zu den älteren Editionen, die sich vorrangig auf die bairische Überlieferung nach B (Ettmüller, unter anderen Voraussetzungen später auch Fromm) oder aber die späte mitteldeutsche Überlieferung nach G (Behaghel, Frings/Schieb) stützte, wird der Neuausgabe zum ersten Mal in der Editionsgeschichte des Romans die älteste mitteldeutsche Überlieferung zugrunde liegen: Als Leithandschrift dient die kritisch sehr gute, am Beginn des 20. Jahrhunderts verschollene und erst 1994 in Cologny-Genf wiederentdeckte Handschrift E, fallweise ergänzt durch die eng verwandte Handschrift H (und gegebenenfalls h). Sämtliche anderen Handschriften und Fragmente werden in einem kritischen Apparat erstmals vollständig dokumentiert. Da der deutsche ‚Eneasroman‘ auf dem ‚Roman d’Eneas‘ basiert, ist bei der Beurteilung von Überlieferungsvarianten auch die altfranzösische Tradition grundsätzlich heranzuziehen.

Im Unterschied zu allen früheren Editionen des Romans ist die geplante Neuausgabe nicht mehr an einer editorischen Kompensation des dialektalen „Veldekeproblems“ interessiert. Sie wird den Text des ‚Eneasromans‘ in der Sprachform der Leithandschrift E mit behutsamen Normalisierungen (wie u/v-Ausgleich, i/j-Ausgleich, graphemische Vereinheitlichung des s-Formen, Auflösung der Abbreviaturen u.a.) bieten, damit übrigens in einer dialektalen Gestalt, die unter den überlieferten Textzeugen der verlorenen sprachlichen ‚Urform‘ noch am nächsten steht. Eine Umschrift in die standardisierten Formen eines künstlichen ‚Normalmittelhochdeutschen‘, die für sehr späte Überlieferungen mittelhochdeutscher Literatur sinnvoll sein kann, verbietet sich hier schon wegen des mittel-, nicht oberdeutschen Sprachstandes, der mit dem standardisierten System ‚normalmittelhochdeutscher‘ Schreibformen nicht kompatibel ist. Sie ist aber auch in praktischer Hinsicht überflüssig: Die Sprache der Handschrift E aus dem 14. Jahrhundert ist auch für eine wichtige Zielgruppe – Studierende – auf Basis ‚klassischer‘ Mittelhochdeutschkenntnisse gut lesbar.

Neben der Lese- und Studienausgabe in klassischer Buchform ist eine Online-Präsenz geplant, die die unterschiedlichen Rezensionen der Überlieferung in vollständiger diplomatischer Transkription mitsamt den digitalisierten Handschriften synoptisch verfügbar macht (Open Access).