Philipp Reich
(Univ. Heidelberg)
Status: Dissertation, geplanter Abschluss: 2020
Der Fahrende Schüler ist ein Typus, der um das Jahr 1500 in administrativen Schriften (Policey-Schrifttum, im Liber Vagatorum) als betrügerischer Bettler feste Gestalt annimmt. Ausgehend von diesem Befund begibt sich die Studie auf einige Spurensuchen, um zu ermitteln, unter welchen Bedingungen die Tradition dieses Musters generiert wird.
Diese Spurensuchen führen zu mittellateinischen Liedern über einen lebenslustigen Orden der Vaganten (u. a. in den Carmina Burana) und ermitteln, wie Bußpredigten, Ständesatiren und Schwänke Schüler als einen gesellschaftlichen Stand figurieren. Schließlich untersuchen sie, wie (ziellose) Bewegung bei Schülern bewertet wird, und zwar anhand von Stichproben aus dem Kirchen- und Universitätsrecht, schuldidaktischen und -satirischen Texten, sowie der legendarischen und schwankhaften Kleinepik. Eine letzte Spurensuche analysiert die Begriffsgeschichte des Ausdrucks ‚Fahrender Schüler‘.
Ausgehend von diesen Rückblicken, unternimmt die Studie auch Ausblicke auf die Konstitution und Transformation des Figurenmusters in gelehrten, volkstümlichen und literarischen Diskursen des 16. und 17. Jahrhunderts. Den Abschluss bildet der Historismus des 19. Jahrhunderts, der in Rückgriff auf Elemente der romantischen Literatur den Mythos des lustigen Vaganten schafft und so eine eigene Tradition vom Fahrenden Schüler erfindet.
Nachdem das Phänomen des Fahrenden Schülers von der Geschichtswissenschaft in den Bereich der Literaturgeschichte verschoben wurde, geht die Studie weniger der Frage nach der historischen Existenz als vielmehr der Frage nach der Form und den Funktionen der Darstellung nach. Es geht also nicht darum, ob Fahrende Schüler wirklich existierten, wohl aber wie diese als Imaginäres auf die Gesellschaft wirkten. Um zwischen literaturgeschichtlichen, kulturwissenschaftlichen und narratologischen Fragestellungen zu vermitteln, bedient sich die Studie dem Konzept des gesellschaftlichen Imaginären (Castoriadis und Müller) und der Kategorie der literarischen Tradition in phänomenologischer, mustertheoretischer (Ricœur und Winter) und hermeneutischer Perspektive (Gadamer und Barner).