Ein Erzähler erzählt. Entstehen und Begehen virtueller Räume in der höfischen Epik des Hochmittelalters

Silvan Wagner

(Univ. Bayreuth)

Status: Habilitation, geplanter Abschluss: 2013

Die Alterität vormoderner Raumkonzepte ist ein im Bereich der Älteren Deutschen Philologie seit den 1950er Jahren diskutiertes Phänomen. Besonders bei erzählender Literatur des Mittelalters wird auffällig, dass hier offensichtlich ganz andere Raumkonzepte als ein modernes, cartesianisches Raumkonzept im Hintergrund stehen. Die jüngere Forschung, die sich mit diesem Problem auseinandersetzt, versucht mit der Konzentration auf den Helden der Erzählung und auf seine Aktionen den cartesianischen Raumbegriff der Moderne zugunsten eines dynamischen Raumkonzeptes aufzugeben; dabei greift sie aber auch immer wieder auf cartesianische Raumvorstellungen zurück, die oftmals lediglich an den Helden gekoppelt werden.
In meiner Habilitationsschrift möchte ich stattdessen einen multiperspektivischen Ansatz auf Räume der Erzählung anwenden: Raum wird durch Kommunikation erzeugt (LeFebure), er ist also auch abhängig von den daran Beteiligten, von deren Beobachterstandpunkten, ihrem Wissen etc. Dies umfasst alle an der Erzählkommunikation Beteiligten, also vor allem auch Erzähler und Publikum, so dass die Raumperspektive etwa des Helden einer Erzählung immer auch von der sich mehr oder weniger unterscheidenden Raumperspektive des Erzählers und des Publikums gebrochen wird.
Multiperspektivische Raumkonstellationen erscheinen besonders deutlich dort, wo sie einander Widerstand bieten. Deswegen möchte ich nicht die allgemein zugänglichen, normalen Räume der Erzählung in den Blick nehmen, sondern gerade diejenigen Räume, die nur von einem beschränkten Personal kommunikativ erzeugt werden und in Folge nur für diese zugänglich sind. Diese Räume begreife ich als virtuelle Räume, die sich durch eine gewisse Fragwürdigkeit auszeichnen; den Begriff der Virtualität (der bereits in Schriften des 13. Jahrhunderts nachweisbar ist) verstehe ich als Verweis auf einen spezifischen Kommunikationszusammenhang: Die Existenz (und damit auch Begehbarkeit, Füllbarkeit und Wandelbarkeit) eines virtuellen Raumes ist – im Unterschied zu einem normalen Raum – an je spezifische Kommunikationen und deren Kommunikationspartner gebunden und dauert auch nur für den Verlauf dieser spezifischen Kommunikation. Da gerade Erzählungen die raumschaffende Kommunikation besonders deutlich darstellen, verspricht der kommunikative Raumbegriff eine trennscharfe Zugriffsmöglichkeit auf Raumarten der Erzählung, speziell auf virtuelle Räume.
Das Phänomen virtueller Raum als Analyseansatz vormoderner Raumkonzepte bietet zudem den Vorteil, dass Raum im mittelalterlichen Erzählen nicht mehr in absoluter Alterität aufgeht, sondern auch verwandte Aspekte mit heutiger, postmoderner Raumerfahrung bereithält, die keineswegs in einer cartesianischen Vorstellungen aufgeht.
Freilich gilt es dabei zu historisieren, um nicht ahistorischen Konstanten in Bezug auf virtuellen Räumen aufzusitzen: Virtuelle Räume werden heute vor allem an das Phänomen Cyberspace gebunden, der jedoch vor allem mediale Spezifika besitzt, die nicht auf das Mittelalter übertragbar sind; gerade im Hochmittelalter aber stellt der musikalische Diskurs ein Paradigma für den Aufbau virtueller Räume, da sich in der entwickelnden Mehrstimmigkeit und damit einhergehend Notationstechnik des Hochmittelalters die Vorstellung eines Tonraumes herausbildet, der als virtueller Raum bestimmbar ist: Er wird im Rahmen einer spezifischen – musikalischen – Kommunikation erzeugt, besteht nur für die Dauer dieser Kommunikation (etwa: für die Dauer des Klangereignisses) und ist nur für die an der konkreten Kommunikation Beteiligten existent. In ähnlicher Art und Weise begründet sich auch die Memorialkunst des Hochmittelalters auf virtuelle Räume, so dass anhand der beiden Paradigmen Musik und Memoria der Begriff des virtuellen Raumes historisiert werden kann. Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass die höfische Literatur des Hochmittelalters offenbar auf diese Arten der virtuellen Raumkonzeption zurückgreift, dabei aber auch spielerisch mit den interdiskursiv übernommenen Mustern umgeht, diese variiert und verändert.
Die Klage Enites im Erec-Roman Hartmanns von Aue beispielsweise konstituiert sich in einem zunächst nur negativ definierten Raum (Wildnis als Abwesenheit des Höfischen), der auf dieser Basis in Anlehnung an den musikalischen Diskurs neu geformt und gefüllt wird: Enite schreit, woraufhin ihr das Echo antwortet, sie kommuniziert mit unterschiedlichsten Kommunikationspartnern, die sich aber durch ihre Weigerung zur Kommunikation auszeichnen, und schließlich eröffnet Enite mit ihrem Auseinanderfallen der Stimme einen Tonraum, der zwischenzeitig den in der Szene für die Figur aufgebrochenen, existenziellen Problemen buchstäblich Raum geben kann. Dieses Geschehen wird begleitet mit einem komplexen Spiel der Öffnung und Schließung der beiden erzählerischen Großräume Erzählung und Erzähler/Publikum, so dass sich diese Stelle unter dem Blickwinkel virtueller Raum als Schlüsselstelle des Romans entpuppt.
Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit dem Zimmer, in dem Iwein im gleichnamigen Roman Hartmanns nach seiner Tötung Askalons vor den wütenden Burgbewohnern verbirgt: Die architektonische Unmöglichkeit des Zimmers, von dem aus offenbar die gesamte Burg einsehbar ist, wurde von der Forschung bereits herausgearbeitet, allerdings ohne eine befriedigende Interpretation zu erzielen. Betrachtet man das Zimmer unter kommunikationstheoretischem Gesichtspunkt, so stellt es auch einen (in der Bildhaftigkeit des Romans parallel physisch greifbaren) virtuellen Raum dar, der – analog zu den Räumen der ars memoriandi – als Erinnerungsraum genutzt wird: In ihm sind Iwein und Lunete zugleich als Personen der Gegenwart und der gemeinsam erinnerten Vergangenheit anwesend, und diese doppelte Anwesenheit im einerseits virtuellen, andererseits physischen Raum ist die Grundlage für die Treuebindung, die den gesamten Roman bestimmen wird.
Betrachtet man den Vorgang des mittelalterlichen, höfischen Erzählen – jenseits vom spezifischen Erzählinhalt – so fällt auf, dass sich bereits im Akt des Erzählens zwei relativ feste virtuelle Raumarten herauskristallisieren, die von definierbaren Kommunikationsteilnehmern kommunikativ erzeugt werden und nur für die Dauer der spezifischen Kommunikation „Erzählen“ existieren: Der Erzählraum, der Erzähler und Publikum umfasst, und der erzählte Raum, der das Personal der Erzählung umfasst. Hier wird deutlich, dass die Erzählung bei der Generierung einzelner virtueller Räume innerhalb der Erzählung auf eine Struktur zurückgreifen kann, die den Akt des Erzählens grundsätzlich räumlich bestimmt. So nimmt es nicht weiter Wunder, dass gerade ausgehend von virtuellen Räumen innerhalb der Erzählung autopoietische Verbindungen zum Erzählraum und zum Akt des Erzählens selbst aufgemacht werden: Wie an der höfischen Epik des Hochmittelalters zu zeigen sein wird, bilden vor allem virtuelle erzählte Räume gleichsam Brücken zwischen Erzählraum und erzähltem Raum, so dass an den entsprechenden Stellen beide Großräume des Erzählens in dynamischen Austausch treten, was beide Räume verändern kann.
Diese Interferenz zwischen den virtuellen Großräumen des Erzählens sollen anhand der höfischen Romane Erec, Iwein, Willehalm, Parzival und Prosalancelot untersucht werden. Hier liegen virtuelle Räume innerhalb der Erzählung vor, die besonders deutlich eine Verbindung zum Erzählraum ausbilden und die in Folge eine intensive Bewegung in die Räumlichkeit der Erzählung bringt.